Streifzug durch den Herbst: Von Sleater-Kinney zu Sleaford Mods, von Greta Thunberg bis zu globalen antisemitischen Realitäten.
Auf die letzte Woche zurückblicken, das heißt auch, 85 Jahre zurückzublicken. Am 9. November 1938 wurden ganz Deutschland jüdische Menschen und Einrichtungen angegriffen, zu organisierten Mobs gesellen sich unzählige spontane Mittäter. Diese Pogrome schreiben Geschichte als Reichskristallnacht, ein Ende der Menschlichkeit in Deutschland ist erreicht.
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85 Jahre später und einen Tag. Ich befinde mich auf einem Konzert in London, im Roundhouse irgendwo im knalligen Stadtteil Camden. Sleater-Kinney stehen auf der Bühne. Die Band um Carrie Brownstein und Corin Tucker spielt ein Best-Of-Set, die Stimmung ist euphorisch, energetisch. Anfang nächsten Jahres wird ein neues Album erscheinen, LITTLE ROPE. Es beschreibt das Thema Verlust, Carries Eltern starben bei einem Unfall auf einer Europareise. Das Songwriting der Platte fungierte als Teil eines Verarbeitungsprozess. Carrie traut sich, mit einer persönlichen Ansage die Stimmung in etwas Feierliches zu drehen. Es wird ruhig. Das Publikum hört an ihrer Stimme, dass hier jetzt keine Rock’n’Roll-Floskeln verkündet werden. Sie spricht vom Erleben des Verlusts („Loss“) … in einen Moment der Stille brüllt jemand: „Free Palestine!“ Viele in der Menge johlen, die eigentliche Intention der Worte wurde gekapert. Denn die weitere Ansage geht letztlich unter, erneute Rufe „Free Palestine!“, übergriffig, Applaus, Applaus, Applaus.
Es würde nicht stimmen, wenn ich hier nun schriebe, dass ich aus allen Wolken gefallen sei. Den Tag über in London hatte ich immer wieder gesehen, wie eigentlich jedes Solidaritätsplakat hinsichtlich der von der Hamas verschleppten Geiseln zerrissen oder beschmiert wurde. This is england, ich versuche, das alles für mich zu kontextualisieren. Auch um meinen Frust zu beherrschen. Besonders die hiesige Linke in England und damit auch große Teile der Musikszene wird sozialisiert mit, sagen wir, Empathie für die palätinesische Seite im Nahost-Konflikt – um es nicht so zu formulieren: sie wird sozialisiert mit einer Ablehnung von Israel.
Aus deutscher Perspektive schwierig, hier eine moralische Position einzunehmen. Denn diese müsste ja lauten: Wäre euer Land für den Mord an sechs Millionen Jüd*innen verantwortlich, dann wärt ihr jetzt schlauer! Okay. Doch noch während der Überfall der Hamas auf Zivilist*innen in Israel Anfang Oktober lief, positionierten sich bereits diverse Musik-Acts auf den sozialen Medien nicht nur aus England, versteht sich – allerdings nicht zugunsten der Angegriffenen. Selbst dass die Besucherschaft eines ganzen Musikfestivals ausgelöscht wurde, schien kein Widerspruch für große Teile der globalen Musikszene. Auch das konnte offensichtlich noch für „die gute Sache“ subsummiert werden, auch das geht für viele offenbar noch als legitimer Freiheitskampf durch.
Solidarität für den „Underdog“. Eine Solidarität, das muss man allerdings auch feststellen, die die palästinesische Seite ausschließlich im Konflikt mit Israel ereilt. Mit was für Katastrophen und Aggressionen die Palästinenser*innen beispielsweise in Kuwait, im Libanon oder Syrien konfrontiert wurden – auch in jüngster Zeit – das hat dagegen nicht annähernd soviel Aufmerksamkeit ausgelöst.
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Die Rollen sind verteilt und internationale Musiker*innen, die nicht bereit sind, sich diesem Konsens anzuschließen, müssen dieser Tage dagegen viel aushalten. Sleaford Mods zum Beispiel. Bei einem Konzert der Band in Madrid wurde wiederholt in die Performance reingerufen und ein „Pali-Schal“ auf die Bühne geworfen – mit der Aufforderung, die Band solle sich mit jenem zeigen. Sänger Jason Williamson verweigerte das – und als die Unterbrechungen dennoch nicht aufhörten, brachen Sleaford Mods das Konzert ab.
Ihre Erklärung, sich nicht vor den Karren einer Seite spannen lassen zu wollen und sich auch nicht befähigt sähen, in dem komplexen Konflikt überhaupt öffentliche Aussagen zu treffen, bringt der Band einen immensen Shitstorm ein, schaut mal auf ihre Instagram-Seite. Die Working-Class-Texte der Band seien eine Farce, wenn sie sich nicht auf die Seite der Unterdrückten stellten und überhaupt … from the river to the sea. Der momentan allgegenwärtige Slogan, der nicht weniger als die Auslöschung Israels und der 6,7 Millionen jüdischen Menschen darin, impliziert.
Ich breche das Lesen der Kommentare ab, es ist zu finster. Wie muss sich erst die Band fühlen? Man kann es ahnen, wenn man sich die Berichterstattung des renommierten NME anschaut. Wenn ihr Sleaford Mods supporten wollt, empfehle ich, einfach einen unterstützenden Kommentar in diesem Wahnsinn dazulassen.
Am Tag nach dem Konzert von Sleater-Kinney verlasse ich London wieder. Und verpasse die riesige Pro-Palästina-Demonstration, 300.000 Teilnehmer*innen, 145 Festnahmen, das Zeigen von Pro-Hamas-Plakaten und antisemitischer Sprechchöre.
Ein paar Tage darauf in der Fußgängerzone, zurück irgendwo in Deutschland. Jemand hält mir ein Flugblatt hin, ich greife es, damit ich es nicht mehr direkt vor der Fresse habe, gehe weiter. Paar Schritte dann kurz draufgeschaut. Keine Werbung, sondern was Politisches, das Wort „Israel“ ist zu lesen, es steht in Anführungszeichen. Kleiner semantischer Move, um dem einzig sicheren Rückzugsort weltweit für Jüd*innen die Legitimation abzusprechen. Am liebsten würde ich zurückgehen und den Typ anschreien, ob den das allerdings beeindrucken würde? Ich schmeiße das Pamphlet einfach in den nächsten Mülleimer.
Und werde ein bisschen wehmütig … Wie routiniert und überzeugt noch vor nicht langer Zeit Hubert Aiwanger als Antisemiten geframed wurde. Für ein Flugblatt von vor 35 Jahren. Auch wenn ich die Gleichsetzung eines heutigen Menschen mit seiner Vergangenheit für fragwürdig halte, passte für mich das Feindbild: Was ist das für ein unguter Rechtspopulist, warum stürzt der Affe bloß nicht? Es fiel mir nicht schwer zu urteilen.
Bei Personen mit (von mir gelesenem) arabischen Migrationshintergrund und ihren „Israel“-Flugis fällt mir das ungleich schwerer. Schließlich hat selbst – Achtung Treppenwitz – Aiwanger die antisemitischen Ausfälle bei den hiesigen Pro-Palästina-Demos genutzt, um sich gegen Zuwanderung und für Abschiebungen stark zu machen. Absurd aber für ihn trotz eigener antisemitischer Vergangenheit scheinbar total stimmig.
Landet man aber nicht mit solchen Rechten in einem Topf, wenn man Demos ächten will, die zwar sichtbar islamistisch und antisemitisch, aber eben auch sichtbar migrantisch geprägt sind? Natürlich nicht. Auch wenn Social Media anders suggeriert, es gibt nicht bloß immer nur genau zwei Pole innerhalb eines komplexen Problems.
Noch mehr Säure auf die Wunden und Widersprüche? Kein Problem, nur ein paar Klicks weiter entfernt im Internet, setzt Greta Thunberg aggressive Pro-Palästina- und Anti-Israel-Posts ab. Ich fühle mich ernsthaft von ihr betrogen, erinnere ich mich doch nur zu gut, wie ich für sie und gegen all die peinlichen wie unzähligen Boomer Position bezogen habe die vergangenen Jahre. „Hört auf die Wissenschaft, bevor es zu spät ist!“, ist eine ihrer wirkmächtigsten Ansagen hinsichtlich des Klimawandels. Nun verbreitet das maßgeblich von ihr geprägte Fridays-For-Future-Movement abenteuerlich verkürzte Kacheln, in denen die Komplexität des Nahost-Konflikts auf einen einseitigen Landraub reduziert wird. Gut und Böse und fertig. Wissenschaft spielt in dieser Bewegung offensichtlich doch keine so übergeordnete Rolle, wird einem bewusst. Bedenklich, wirklich bedenklich – obwohl, warum schreibe ich nicht, was ich tatsächlich denke: ätzend, wirklich ätzend!
Denn in dieser ganzen explosiven Gemengelage sind die Einlassungen von Thunberg vermutlich die fatalsten. Sie treffen auf junge Leute, auf viele junge Leute – und sie bieten nichts als Zorn und einfache Lösungen. Die haarsträubenden Aktivitäten von Greta Thunberg im Medienkrieg zum Nahost-Thema dürften sich am Ende des Tages in der weltweiten Gewalt gegen Menschen, die als jüdisch identifiziert werden, spürbar messen lassen. Für einen Moment denke ich tatsächlich, na, hoffentlich geht die Erde unter, das würde ich Greta gönnen! Leider kann ich auf dieser Position nicht lange verharren.
Ich lese von dem Journalisten Nicholas Potter etwas in der taz. Potter hat gemeinsam mit Stefan Lauer das Buch „Judenhass Underground – Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen“ herausgegeben. Er schreibt nun darüber, wie die Betreiber der renommierten Berliner HÖR-Plattform sich verwehrten gegen das Zeigen anti-jüdischer Symbole bei zwei Sessions. Potter zitiert ein Statement jener Gründer des Kanals für DJ-Perfomances: „Wir glauben an freie Meinungsäußerung, und wir haben Flaggen und friedliche Slogans nicht zensiert und werden dies auch nicht tun. Es gibt jedoch Symbole, die für einige Zielgruppen kontrovers sind und die wir nicht zulassen.“ Die beiden ergänzen aber genauso: „Wir unterstützen in keiner Weise den Horror, der unschuldigen Palästinenser*innen widerfährt.“ Dennoch – die Plattform sieht sich aktuell von massiven Anfeindungen und Boykottaufrufen betroffen. Dass die beiden Betreiber Israelis sind, spielt dabei sicherlich eine Rolle.
Das war ein kleiner Streifzug durch die jüngste Woche im November des Jahres 2023. Die Frage, wie schlimm soll es noch werden, will man dabei gar nicht erst stellen. Denn in all dem Schrecken der Gegenwart liegt ja noch weit größere Unheilsahnung: „We’ve only just begun“, scheinen die Dämonen respektive Demagogen zu singen. Einigeln ist trotzdem keine Option. Echt schade.
Doch auch wenn es nicht so bequem ist: Bei Antisemitismus muss interveniert werden, ob von rechter oder eben auch arabischer Seite. Wenn die gerechtfertigte Solidarität mit den palästinensischen Menschen auf Demos für Hass-Prozessionen gegen Jüd*innen genutzt wird, dann geht es nicht mehr um die Menschen in Gaza, dann wird das eine konkrete Gefahr für die Betroffenen.
PS: War noch was? Ach so, die Sache mit der Musik … Kulturelle Sozialisation hin oder her, und egal, ob englische Kack-Bands oder hiesige Hamas-Versteher-Lappen mit Instrumentenhintergrund – dieser Herbst macht zumindest mir klar, welche Acts ich mit ihrem als „Pro-Palästina“ angestrichenen Antisemitismus einfach nicht mehr hören möchte. Ja, Björk inbegriffen. Ach, die hatte ich jetzt gar nicht erwähnt gehabt? Googelt halt selbst – oder Moment, lasst es doch lieber.
Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.
Author: Shawn Norton
Last Updated: 1703349722
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